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von Dirk Fox » 03 Jul 2022, 23:26
Ach, Esther, Du hast eine fantastische Diskussion losgetreten! Was "barfuß" so alles auslösen kann...
Also, halten wir fest, wovon wir gemeinsam überzeugt sind (stimmt das so?):
- Ein Beispiel ist kein Beweis, kann aber eine Regel = eine Aussage mit "Allquantor" ("es gilt immer") widerlegen (falsifizieren)
- Um zu einer These zu kommen, die man als Aussage/Regel formuliert, können Beispiele hilfreich sein; je mehr man findet (bspw. durch "Messungen", Befragungen etc.), desto valider ist die These erstmal (bis zu einer Widerlegung/Gegenbeispiel)
- Wenn sich kein Gegenbeispiel findet oder ein Widerspruch ableiten lässt, kann eine Aussage/Regel "wahr" sein (= "im Modell gültig", denn jede Beschreibung der Wirklichkeit ist immer ein vereinfachendes Modell mit bestimmten Annahmen)
Im Einzelnen muss man jeweils prüfen, ob das Beispiel/Gegenbeispiel ausreichend bestätigt ist oder die Messung/Befragung das richtige misst (und nicht bspw. andere Einflussfaktoren das Ergebnis verfälscht haben können). Das ist in der Physik einfacher als in der Soziologie - menschliches Verhalten folgt nicht Naturgesetzen, wie ein fallender Apfel.
Also lässt sich aus Thomas' Messungen ableiten, dass die mathematischen Fertigkeiten und Kenntnisse, die er für wichtig hält (und die bislang als Voraussetzung für bestimmte Lerninhalte an der Hochschule gelten und erforderlich sind), offenbar immer weniger bei Studienanfängern vorzufinden sind. Ob das zu *bedauern* ist, ist eine Frage der Perspektive, denn natürlich kann man wie Till fragen, ob man diese Lerninhalte denn braucht. Und da sind wir bei einer wichtigen Frage, meine ich: Was *sind* denn die Dinge, die Menschen (oder die "Menschheit") als Kenntnisse bewahren und der nächsten Generation vermitteln sollten?
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass bestimmte Grundkenntnisse, die auch "Kulturtechniken" genannt werden (Lesen, Schreiben, Rechnen, ...) unsere Kultur auszeichnen, und wir (nicht wirtschaftlich, sondern gewissermaßen in "kultureller Reife") zurückfallen, wenn immer weniger Menschen sie beherrschen; und das Bildung gerade darin bestehen sollte, diese Kenntnisse und Fertigkeiten immer mehr Menschen zugänglich zu machen. Dazu zählen für mich auch die Logik, die Beherrschung von Fremdsprachen, die Kenntnis der Geschichte, die Kenntnis von Literatur, das Verständnis der Funktionsweise von politischen Ordnungen (insbesondere der unsrigen) - und dieser Kanon wächst eher, als dass er schrumpft. Ich kann falsch liegen - aber für mich folgt daraus eigentlich eher, dass Schule länger dauern müsste als früher, dass wir sehr vorsichtig sein müssen mit den Dingen, die wir streichen (weil neue dazukommen), und dass die Anforderungen an Schule und Lernstoff eher steigt... und "lebenslanges Lernen" nicht nur ein waberndes Postulat sein sollte, sondern eher einer konkreten Ausgestaltung bedarf (z.B. indem man den Kanon der Kulturtechniken beschreibt und entwickelt, und geeignete Lernangebote macht).
Herzliche Grüße,
Dirk